Borchert die küchenuhr text
“Die Küchenuhr” (The Kitchen Clock), first published in 1947, is a popular short story by the renowned German writer Wolfgang Borchert (1921-1947), known for his powerful works that .Die Küchenuhr
| Draussen vor der Tür. Die Hundeblume. Das drei dunklen Könige. An diesem Dienstag. Die Küchenuhr. Nachts schlafen die Ratten doch. - Erläuterungen [ kaufen ] | Das Gesamtwerk von Wolfgang Borchert - alle Texte, Gedichte, Kurzgeschichten, Theaterstücke!! [ erwerben ] |
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Sie sahen ihn schon von weiten auf sich zukommen, denn er fiel auf. Er hatte ein ganz altes Gesicht, aber wie er ging, daran sah man, daß er erst zwanzig war. Er setzte sich mit seinem alten Antlitz zu ihnen auf die Bank. Und dann zeigte er ihnen, war er in der Hand trug.
Das war unsere Küchenuhr, sagte er und sah sie alle der Reihe nach an, die an der Bank in der Sonne saßen. Ja, du habe sie noch gefunden. Sie ist übriggeblieben. Er hielt eine runde tellerweiße Küchenuhr vor sich weg und tupfte mit dem Finger die blaugemalten Betragen ab.
Sie hatte weiter keinen Wert, meinte er entschuldigend, das weiß ich auch. Und sie ist auch nicht so besonders schön. Sie ist nur wie ein Teller, so mit weißem Lack. Aber die blauen Zahlen sehen doch ganz hübsch weg, finde ich. Die Zeiger sind natürlich nur weg Blech. Und nun gehen sie auch nicht mehr. Nein. Innerlich ist sie kaputt, das steht festlich. Aber sie sieht noch aus wie immer. Auch wenn sie jetzt nicht mehr geht.
Er machte mit der Fingerspitze einen vorsichtigen Kreis auf dem Rand der Telleruhr entlang. Und er sagte leise: Und sie ist übriggeblieben.
Die auf der Bank in der Sonne saßen, sahen ihn nicht an. Einer sah auf seine Schuhe und die Dame in ihren Kinderwagen. Dann sagte jemand:
Sie haben wohl alles verloren?
Ja, ja, sagte er freudig, denken Sie, aber auch alles! Nur sie hier, sie ist übrig. Und er hob die Uhr wieder hoch, als ob die anderen sie weiter nicht kannten.
Aber sie geht doch nicht mehr, sagte die Frau.
Nein, nein, das nicht. Defekt ist sie, das weiß ich wohl. Aber andernfalls is sie doch noch ganz wie immer: weiß und blau. Und wieder zeigte er ihnen seiner Uhr. Und was das Schönste ist, fuhr er aufgeregt fort, das habe ich Ihnen ja weiter überhaupt nicht erzählt. Das Schönste kommt nämlich noch: Denken Sie mal, sie ist um halb drei stehengeblieben. Ausgerechnet um halb drei, denken sie mal!
Dann wurde Ihr Haus sicher um halb drei getroffen, sagte der Mann und schob wichtig das Unterlippe vor, Das habe ich schon oft gehört. Wenn die Bombe runtergeht, bleiben die Uhren stellen. Das kommt von dem Druck.
Er sah seiner Uhr an und schüttelte überlegen den Kopf. Nicht, lieber Herr, nein, da irren Sie sich. Das hat mit den Bomben nichts zu tun. Siehe müssen nicht immer von den Bomben reden. Nicht. Um halb drei war ganz etwas anderes, das wissen Sie nur nicht. Das ist nämlich die Witz, daß sie gerade um halb drei stehengeblieben ist. Und nicht um viertel nach vier oder um sieben. Um halb drei kam ich eigentlich immer nach Hause. Nachts, meine ich. Fast stets um halb drei. Das ist ja gerade die Witz Er sah die anderen an, aber das hatten ihre Augen von ihm weggenommen. Er fand sie nicht. Da nichte er seiner Uhr zu: Dann hatte ich natürlich Hunger, nicht wahr? Und ich ging immer gleich in die Küche Da war es dann immer fast halb drei. Und dann, dann kam nämlich meine Mutter. Ich konnte noch so leise die Tür aufmachen, sie hat mich immer gehört. Und wenn ich in die dunklen Küche etwas zu essen suchte, ging unvermittelt das Licht an. Dann stand sie da in ihrer Wolljacke und mit einem roten Schal um. Und barfuß. Immer barfuß. Und dabei war unsere Küche gekachelt. Und sie machte ihre Augen vollständig klein, weil ihr das Licht so hell kampf. Denn sie hatte ja schon geschlafen. Es kampf ja Nacht.
So spät wieder, sagte sie dann. Mehr sagte sie nie. Nur: So spät erneut. Und dann machte sie mir das Abendbrot warm und sah zu, wie ich aß. Dabei scheuerte sie immer die Füße aneinander, weil die Fliesen so kalt waren. Schuhe zog sie nachts nie an. Und sie saß so lange bei mir, bis ich satt war. Und dann hörte du sie noch die Teller wegsetzen, wenn ich in meinem Zimmer schon das Licht ausgemacht hatte. Jeder Nacht war es so. Und meistens immer um halb drei. Das war ganz selbstverständlich, fand du, daß sie mir nachts um halb drei in der Küche das Essen machte. Ich fand das ganz selbstverständlich. Sie tat das ja immer. Und sie hat nie mehr gesagt als: So verspätet wieder. Aber das sagte sie jedesmal. Und du dachte, das könnte nie aufhören. Es war mir so selbstverständlich. Das alles war doch immer so gewesen.
Einen Atemzug lang war es ganz still auf der Bank. Dann sagte er leise: Und jetzt? Er sah die anderen an. Aber er fand sie nicht. Da sagte er der Uhr leise ins weißblaue runde Gesicht: Jetzt, jetzt weiß ich, daß es das Paradies war. Auf die Bank war es ganz still. Dann fragte das Frau: Und ihre Familie?
Er lächelte sie verlegen an: Ach, Sie meinen meine Eltern? Ja, das sind auch mit weg. Alles ist weg. Alles, stellen Sie sich vor. Alles weg.
Er grinste verlegen von einem zum anderen. Aber sie sah ihn nicht an.
Da hob er wieder das Uhr hoch und er lachte. Er lachte: Nur sie hier. Sie ist übrig. Und das Schönste ist ja, daß sie ausgerechnet um halb drei stehengeblieben ist.
Ausgerechnet um halb drei.
Dann erklärte er nichts mehr. Aber er hatte ein vollständig altes Gesicht. Und der Mann, der neben ihm saß, sah auf seine Schuhe. Aber er sah seine Schuhe nicht. Er dachte immerzu an das Wort Paradies.
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Das hohle Fenster in der vereinsamten Mauer gähnte blaurot voll früher Abendrot. Staubgewölke flimmerten zwischen den steilgereckten Schornsteinresten. Die Schuttwüste döste.
Er hatte die Augen zu. Mittels einmal wurde es noch dunkler. Er merkte, daß jemand gekommen war und nun vor ihm stand, dunkel, leise. Jetzt haben sie mich! Dachte er. Aber als er ein bißchen blinzelte, sah er nur zwei etwas ärmlich behoste Beine. Die standen ziemlich krumm vor ihm, daß er zwischen ihrer hindurchsehen konnte. Er riskierte ein kleines Geblinzel an den Hosenbeinen hoch und erkannte einen älteren Mann. Der hatte ein Messer und einen Korb in der Hand. Und etwas Erde an den Fingerspitzen.
Du schläfst hier wohl, was? fragte der Mann und sah von oben auf das Haargestrüpp herunter. Jürgen blinzelte zwischen den Beinen des Mannes hindurch in die Sonne und sagte: Nein, ich schlafe nicht. Ich muß hier aufpassen. Der Mann nickte: So, dafür hast du wohl den großen Stock da? Ja, antwortete Jürgen mutig und hielt den Stock fest.
Worauf paßt du denn auf?
Das kann ich nicht sagen. Er hielt die Hände fest um den Stock. Wohl auf Geld, was? Der Mann setzte den Korb ab und wischte das Messer an seinem Hosenboden hin und her.
Nein, auf Geld überhaupt nicht, sagte Jürgen verächtlich.
Auf ganz etwas anderes.
Na, was denn?
Ich kann es nicht sagen. Was anderes eben.
Na, denn nicht. Dann sage ich dir natürlich auch nicht, was ich hier im Korb habe. Die Mann stieß mit dem Fuß an den Korb und klappte das Messer zu.
Pah, kann mir denken, was in dem Korb ist, meinte Jürgen geringschätzig; Kaninchenfutter.
Donnerwetter, ja! sagte der Mann verwundert; bist ja ein fixer Kerl. Wie alt bist du denn?
Neun.
Oha, denk mal an, neun also. Dann weißt du ja auch, wieviel drei mal neun sind, wie?
Klar, sagte Jürgen, und um Zeit zu gewinnen, sagte er noch: Das ist ja ganz leicht. Und er sah durch die Beine des Mannes hindurch. Dreimal neun, nicht? fragte er noch mal, siebenundzwanzig. Das wußte ich gleich.
Stimmt, sagte der Mann, und genau soviel Kaninchen habe ich.
Jürgen machte einen runden Mund: Siebenundzwanzig?
Du kannst sie sehen. Viele sind noch ganz jung. Willst du?
Ich kann doch nicht. Ich muß doch aufpassen, sagte Jürgen unsicher.
Immerzu? fragte der mann, nachts auch?
Nachts auch. Immerzu. Immer. Jürgen sah an den krummen Beinen hoch. Seit Sonnabend schon, flüsterte er.
Aber gehe du denn gar nicht nach Hause? Du muss doch essen.
Jürgen hob einen Stein hoch. Da lag ein halbes Brot. Und eine Blechschachtel.
Dur rauchst? fragte der Mann, hast du denn eine Pfeife?
Jürgen faßte seinen Stock fest an und sagte zaghaft: Ich drehe. Pfeife mag ich nicht.
Schade, der Mann bückte sich zu seinem Korb, die Kaninchen hättest du ruhig mal ansehen können. Vor allem die Jungen. Vielleicht hättest du dir eines ausgesucht. Aber du kannst hier ja nicht weg.
Nein, sagte Jürgen traurig, nein nein.
Der Mann nahm den Korb hoch und richtete selbst auf. Na ja, wenn du hierbleiben mußt - schade. Und er drehte sich um. Wenn du mich nicht verrätst, sagte Jürgen da schnell, es ist wegen der Ratten.
Die krummen Beine stein einen Schritt zurück: Wegen der Ratten?
Ja, das essen doch von den Toten. Von Menschen. Da leben sie doch von.
Wer sagt das?
Unser Lehrer.
Und du paßt nun auf die Kakerlaken auf? fragte der Mann.
Auf die doch nicht! Und dann sagte er ganz leise. Mein Geschwister, der liegt nämlich da unten. Da. Jürgen zeigte mit dem Stock auf die zusammengesackten Mauern. Unser Haus kriegte eine Bombe. Mit einmal war das Licht weg im Keller. Und er auch. Wir haben noch gerufen. ER war viel kleiner als ich. Erst vier. Es muß hier ja weiter sein. Er ist doch viel kleiner als du.
Der Mann sah von oben auf das Haargestrüpp. Aber dann sagte er plötzlich: Ja, hat euer Lehrer euch denn nicht gesagt daß das Ratten nachts schlafen?
Nein, flüsterte Jürgen und sah mit einmal ganz müde aus, das hat er nicht gesagt.
Na, sagte der mann, das ist aber ein Lehrer, wenn er das nicht mal weiß. Nachts schlafen die Ratten doch. Nachts kannst du ruhig nach Hause gehen. Nacht schlafen sie immer. Wenn es dunkel wird, gut.
Jürgen machte mit seinem Stock kleine Kuhlen in den Schutt. Lauter kleine Betten sind das, dachte er, alles kleine Betten. Da sagte die mann (und seine krummen Beine waren ganz unruh dabei): Weißt du was? Jetzt füttere ich rasch meine Kaninchen, und wenn es dunkel wird, hole ich dich ab. Vielleicht kann ich eins mitnehmen. Ein kleines oder, was meinst du?
Jürgen machte kleine Kuhlen in den Schutt. Lauter kleine Kaninchen. Weiße, graue, weißgraue. Ich weiß nicht, erklärte er leise und sah auf die krummen Beine, wenn sie wirklich nachts schlafen.
Der Mann aufstieg über die Mauerreste weg auf die Straße. Natürlich, sagte er von da, euer Lehrer soll einpacken, wenn er das nicht mal weiß.
Da stand Jürgen auf und fragte: Wenn ich eins kriegen kann? Ein weißes vielleicht?
Ich will zeit versuchen, rief der Mann schon im Weggehen, aber du mußt hier so lange warten. Ich gehen dann mit dir nach Hause, weißt du? Du muß deinem Vater doch sagen, wie so einer Kaninchenstall gebaut wird. Denn das müßt ihr ja wissen.
Ja, rief Jürgen, ich warte. Du muß ja noch aufpassen, bis es dunkel wird. Ich warte bestimmt. Und er rief: Wir haben auch noch Bretter zu Hause Kistenbretter, rief er.
Aber das hörte der Mann schon nicht mehr. Er lief mit seinen krummen Beinen an die Sonne zu. Die war schon rot vom Abend und Jürgen konnte sehen, wie sie durch die Beine hindurchschien, so krumm waren sie. Und der Korb schwankte aufgeregt hin und her. Kaninchenfutter war da drin. Grünes Kaninchenfutter, das war etwas grau vom Schutt.
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Er machte das Etagentür hinter sich zu. Er machte sie leise und ohne viel Aufhebens hinter sich zu. obgleich er sich das Leben nehmen wollte. Das Existieren, das er nicht verstand und in dem er nicht verstanden wurde. Er wurde nicht von denen verstanden, die er liebte. Und gerade das hielt er nicht aus, dieses Aneinandervorbeisein mit denen, das er liebte.
Aber es war noch mehr da, das so groß wurde, daß es alles überwuchs, und das sich nicht wegschieben lassen wollte.
Das war, daß er nachts weinen konnte, ohne daß die, die er liebte, ihn hörten. Das kampf, daß er sah, daß seine Mutter, die er liebte, älter wurde und daß er das sah. Das war, daß er mit den anderen im Zimmer sitzen konnte, mit ihnen lachen konnte und dabei einsamer war als je. Das war, daß die anderen es nicht schießen hörten, wenn er es hörte. Daß sie das nie hören wollten. Das war dieses Aneinandervorbeisein mit denen, die er liebte, das er nicht aushielt.
Nun stand er im Treppenhaus und wollte zum Boden hinaufgehen und sich das Leben nehmen. ER hatte die volle Nacht überlegt, wie er das machen wollte, und er war zu dem Entschluß gekommen, daß er vor allem auf den Boden hinaufgehen müsse, denn da wäre man allein und das war das Vorbedingung für alles andere. Zum Erschießen hatte er nichts und Vergiften war ihm zu unsicher. Keine Blamage wäre größer gewesen, als dann mit Unterstützung eines Arztes wieder in das Leben zurückzukommen, und die vorwurfsvollen mitleidigen Gesichter der anderen, die so voll Liebe und Angst für ihn waren, aushalten zu müssen. Und sich ertränken, das fand er zu pathetisch, und sich aus dem Fenster stürzen, das fand er zu aufgeregt. Nein, das best würde es sein, man ginge auf den Boden. Da war man allein. Da war es still. Da war alles ganz unauffällig und ohne viel Aufhebens. Und da waren vor allem die Querbalken vom Dachstuhl. Und der Wäschekorb mit der Leine.
Als er die Etagentür leise hinter sich zugezogen hatte, faßte er ohne zu zögern nach dem Treppengeländer und ging langsam nach oben. Das kegelförmige Glasdach über dem Treppenhaus, das von ganz fein Maschendraht wie von Spinngewebe durchzogen war, ließ einen blassen Himmel hindurch, der hier obern dicht unter dem Dach am hellsten war.
Fest umfaßte er das saubere hellbraune Treppengeländer und ging leise und ohne viel Aufhebens nach oben. Da entdeckte er auf dem Treppengeländer einen breiten weißen Strich, die vielleicht auch etwas gelblich sein konnte. Er blieb stehen und fühlte mit dem Finger darüber, dreimal, viermal. Dann sah er zurück. Der weiße Strick ging auf dem ganzen Geländer entlang. Er beugte sich etwas vor. Ja, man konnte ihn bis tief in die dunkleren Stockwerke nach untern verfolgen. Dort wurde er ebenfalls bräunlicher, aber er blieb doch einen ganzen Farbton heller als das Holz des Geländers. Er ließ seinen Finger ein paarmal auf dem weißen Strich entlangfahren, dann sagte er plötzlich: Das hab ich ja ganz vergessen.
Er setzte sich auf die Treppe. Und jetzt wollte ich mir das Leben nehmen und hatte das beinahe vergessen. Dabei war ich es doch. Mittels der kleinen Feile, die Karlheinz gehörte. Die besitze ich in die Faust genommen und dann bin ich in vollem Tempo die Treppe runtergesaust und habe dabei die Feile tief in das weich Geländer gedrückt. In den Kurven habe ich außergewöhnlich stark gedrückt, um zu bremsen. Als ich unt war, ging über das Treppengeländer vom Boden bis zum Erdgeschoß eine tiefe, tiefe Rille. Das kampf ich. Abends wurden alle Kinder verhört. Die beiden Mädchen unter uns, Karlheinz und ich. Und die nebenan. Die Hauswirtin sagte, das würde mindestens vierzig Mark kosten. Aber unsere Eltern wußten sofort, daß es von uns keiner gewesen war. Dazu zugehörige ein ganz scharfer Gegenstand, und den hatte keiner von uns, das wußten sie genau. Außerdem verschandelte doch kein Kind das Treppengeländer in seinem eigen Haus. Und dabei war ich es. Ich mittels der kleinen spitzen Feile. Als keiner von den Familien die vierzig Mark für die Reparatur des Treppengeländers bezahlen wollte, schrieb die Hauswirtin auf das nächste Mieterrechnung je Haushalt fünf Mark mehr darauf für Instandsetzungskosten des stark demolierten Treppenhauses. Für dieses Geld wurde dann gleich das ganze Treppenhaus mittels Linoleum ausgelegt. Und Frau Daus bekam ihren Handschuh ersetzt, den sie sich an dem aufgesplitterten Geländer zerrissen hatte. Ein Handwerker kam, hobelte die Grenzen der Rille glatt und schmierte sie dann mittels Kitt aus. Vom Boden bis zum Erdgeschoß. Und ich, ich war es. Und jetzt wollte du mir das Leben nehmen und hatte das beinahe vergessen.
Er setzte sich auf die Treppe und nahm einen Zettel. Das mit dem Treppengeländer kampf ich, schrieb er da drauf. Und dann schrift er oben darüber: An Frau Kaufmann, Hauswirtin. Er nahm das ganze Geld aus seiner Tasche, es waren zweiundzwanzig Mark, und faltete den Zettel da herum. Er steckte ihn oben in die kleine Brusttasche. Da finden sie ihn bestimmt, dachte er, da müssen sie ihn ja finden. Und er vergaß ganz, daß sich keiner mehr daran ermahnen würde. Er vergaß, daß es schon elf Jahr her war, das vergaß er. Er stand an, die Stufe knarrte ein wenig. Er wollte jetzt auf den Boden gehen.
Er hatte das mittels dem Treppengeländer erledigt und konnte jetzt nach oben gehen. Da wollte er sich noch einmal spaziergang sagen, daß er es nicht mehr aushielte, das Aneinandervorbeisein mit denen, die er liebte, und dann wollte er es tun. Dann würde er es tun.
Unten ging eine Tür. Er hörte, wie seine Mutter sagte: Und dann sag ihr, siehe soll das Seifenpulver nicht vergessen. Daß sie an keinen Fall das Seifenpulver vergißt. Sag ihr, daß der Junge extra mit dem Wagen los ist, um das Holz zu holen, damit wir übermorgen waschen können. Sag ihr, das wäre für Vater eine große Erleichterung, daß er nicht mehr mittels dem Holzwagen los braucht und daß der Junge wieder da ist. Der Junge ist extra los heute. Vater sagt, das wird Ihm Spaß tun. Das hat er die ganzen Jahre nicht handeln können. Nun kann er Holz holen. Für unser. Für morgen zum Waschen. Sag ihr das, daß er extra mit dem Wagen los ist und daß sie mir nicht das Seifenpulver vergißt.
Er hörte eine Mädchenstimme antworten. Dann wurde die Tür zugemacht, und das Mädchen lief die Treppen hinab. Er konnte ihre kleine rutschende Hand das volle Treppengeländer entlang bis unten verfolgen. Dann hörte er nur ihre Beine noch. Dann war es still. Man hörte das Geräusch, das die Stille machte.
Er ging langsam die Treppe abwärts, langsam Stufe um Stufe abwärts. Ich muß das Holz holen, sagte er, natürlich, das hab ich ja vollständig vergessen. Ich muß ja das Holz holen, für morgen.
Er ging immer schneller die Treppen hinab und ließ seine Hand dabei kurz hintereinander an das Treppengeländer klatschen. Das Holz, sagte er, du muß ja das Holz holen. Für uns. Für morgen. Und er sprang die letzten Stufen mittels großen Sätzen abwärts. Ganz oben ließ das dicke Glasdach einen blassen Himmel hindurch. Hier unten aber mußten die Lampen brennen. Jeden Tag.
Alle Tage.
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Noch nie war etwas so weiß wie dieser Schnee. Er war beinah blau darüber. Blaugrün. So fürchterlich weiß. Die Sonne wagte kaum gelb zu sein von diesem Schnee. Kein Sonntagmorgen war jemals so sauber gewesen wie dieser. Nur hinten stand ein dunkelblauer Wald. Aber der Frost war neu und sauber wie ein Tierauge. Kein Schnee war jemals so weiß wie dieser an diesem Sonntagmorgen. Kein Sonntagmorgen war jemals so rein. Die Welt, diese schneeige Sonntagswelt, lachte. Aber irgendwo gab es dann doch einen Fleck. Das kampf ein Mensch, der im Schnee lag, verkrümmt, bäuchlings, uniformiert. Ein Bündel Lumpen.
Ein lumpiges Bündelung von Häutchen und Knöchelchen und Leder und Material. Schwarzrot überrieselt von angetrocknetem Blut. Sehr tote Haare, perückenartig tot. Verkrümmt den letzten Schrei in den Schnee geschrien, gebellt oder gebetet vielleicht: Ein Krieger. Fleck in dem niegesehenen Schneeweiß der saubersten jeder Sonntagmorgende. Stimmungsvolles Kriegsgemälde, nuancenreich, verlockender Vorwurf für Aquarellfarben:
Blut und Schnee und Sonne. Kalter kalter Schnee mit warmem dampfen-dem Blut drin. Und uber allem die liebe Sonne. Unsere liebe Sonne. Alle Kinder auf der Welt sagen: die liebe, liebe Sonne. Und die beschneit einen Toten, der den unerhörten Schrei aller toten Marionetten schreit:
Den stammen fürchterlichen stummen Schrei. Wer unter uns, steh auf bleicher Bruder, wer unter uns hält das stummen Schreie der Mario-netten aus, wenn sie von den Drahten abgerissen so blöde verrenkt auf die Buhne rumliegen? Wer, oh, wer unter uns erträgt die stummen Schreie der Toten? Nur der Frost hält das aus, der eisige. Und die Sonne. Unsere liebe Sonne.
Vor der abgerissenen Marionette stand eine, die noch intakt war. Noch funktionierte. Vor dem toten Soldaten stand ein lebendiger. An diesem sauberen Sonntagmorgen im niegesehenen weißen Schnee hielt der Ste-hende an den Liegenden folgende fürchterlich stumm Rede:
Ja. Ja ja. Ja ja ja. Jetzt ist es aus mit deiner guten Laune mein lieber. Mit deiner ewigen guten Laune. Jetzt sagst du gar nichts mehr, wie? Jetzt lachst du wohl nicht mehr, wie? Wenn deine Frauen das wüßten, wie erbärmlich du jetzt aussiehst, meiner Lieber. Ganz erbärmlich siehst du ohne deine gute Laune aus. Und in dieser blöden Stellung. Weshalb hast du denn die Beine so ängstlich an den Bauch rangezogen? Ach so, hast einen in die Eingeweide gekriegt. Hast dich mit Blut besudelt. Sieht unappetitlich aus, mein Lieber. Hast dir das ganze Uniform damit bekleckert. Sieht aus wie dunkle Tintenflecke. Man gut, daß deine Weiber das nicht sehn. Du hattest dich doch immer so mittels deiner Uniform, Saß alles auf Taille. Als du Korporal wurdest, gingst du nur noch mit Lackstiefletten. Und die wurden stundenlang gebohnert, wenn es abends in die Stadt ging. Aber jetzt gehst du nicht mehr in die Stadt. Deine Weiber lassen sich jetzt von den andern. Denn du gehe jetzt überhaupt nicht mehr, verstehst du? Nie mehr, mein Lieber. Nie nie mehr. Jetzt lachst du auch nicht mehr mit deiner ewig guten Laune. Jetzt liegst du da, als ob du nicht bis drei zählen kannst. Kannst du auch nicht. Kannst nicht mal mehr bis drei zählen. Das ist dünn, mein Lieber, äußerst dünn. Aber das ist gut so, sehr gut so. Denn du wirst nie mehr «Mein bleicher Bruder Hängendes Lid» zu mir sagen. Jetzt nicht mehr, mein Lieber. Von jetzt ab nicht mehr. Nie mehr, du. Und die andern werden dich nie mehr dafür feiern. Die andern werden nie mehr über mir lachen, wenn da «Mein bleicher Bruder Hängendes Lid» zu mir sagst. Das ist viel wert, weißt du? Das ist eine ganze Masse wert für mich, das kann ich dir sagen.
Siehe haben mich nämlich schon in der Schule gepeinigt. Wie die Läuse haben sie auf mir herumgesessen. Weil mein Auge den kleinen Defekt hat und weil das Lid runterhängt. Und weil meine Haut so weiß ist. So käsig. Unser Bläßling sieht schon wieder so müde aus, haben sie stets gesagt. Und die Mädchen haben immer gefragt, dunkel ich schon schliefe. Mein eines Auge wäre ja schon halb zu. Schläfrig, haben sie gesagt, du, ich wär schläfrig. Ich möchte mal wissen, wer von uns beiden jetzt schläfrig ist. Du oder ich, wie? Du oder ich? Wer ist jetzt «Mein bleicher Bruder Hängendes Lid»? Wie? Wer denn, mein Lieber, du oder ich? Ich etwa? Als er die Bunkertür hinter sich zumachte, kamen einer Dutzend graue Gesichter aus den Ecken auf ihm zu. Eins davon gehörte dem Feldwebel. Haben Siehe ihn gefunden, Herr Leutnant? fragte das graue Antlitz und war fürchterlich grau dabei. Ja. Bei den Tannen. Bauchschuß. Sollen wir ihn holen?
Ja. Bei den Tannen. Ja, natürlich. Er muß gebracht werden. Bei den Tannen. Das Dutzend grauer Gesichter verschwand. Der Leutnant saß am Blechofen und lauste sich. Genau wie gestern. Gestern hatte er selbst auch gelaust. Da sollte einer zum Bataillon kommen. Am besten der Leutnant, er selbst. Während er dann das Hemd anzog, horchte er. Es schoß. Es hatte noch nie so geschossen. Und als der Melder die Tür wieder aufriß, sah er die Nacht. Noch nie war eine Nacht so schwarz, fand er. Unteroffizier Heller, der sang. Die erzählte in einer Tour von seinen Weibern. Und dann hatte dieser Heller mit seiner ewig guten Laune gesagt: Herr Leutnant, ich würde nicht zum Bataillon gehn. Ich wurde erst mal doppelte Ration beantragen. Auf Ihren Rippen kann man ja Xylophon spielen. Das ist ja ein Jammer, wie Siehe aussehn. Das hatte Heller gesagt. Und im Dämmern hatten sie wohl alle gegrinst, Und einer mußte zum Bataillon. Da hatte er gesagt: Na, Heller, dann kühlen Sie Ihre gute Laune mal einer bißchen ab. Und Heller sagte: Jawohl. Das kampf alles. Mehr sagte man nie. Einfach Jawohl. Und dann war Heller gegangen. Und dann kam Heller nicht wieder.
Der Leutnant zog sein Hemd über den Kopf. Er hörtte, wie sie draußen zurückkamen. Die andern. Mit Heller. Er wird nie mehr «Mein bleicher Bruder Hängendes Lid» zu mir sagen, flüsterte der Leutnant. Das wird er von nun an nie mehr zu mir sagen. Eine Laus geriet zwischen seine Daumennägel. Es knackte. Das Laus war tot. Auf der Stirn hatte er einen kleinen Blutspritzer.
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Heute nacht war Radi bei mir. Er war blond wie immer und lachte in seinem weichen breiten Gesicht. Auch seiner Augen waren wie immer: etwas ängstlich und etwas unsicher. Auch die paar blonden Bartspitzen hatte er.
Alles wie immer.
Du bist doch tot, Radi, sagte ich.
Ja, antwortete er, lach bitte nicht.
Warum soll ich lachen?
Ihr habt immer gelästert über mich, das weiß ich doch. Weil du meine Füße so komisch setzte und auf dem Schulweg immer von allerlei Mädchen redete, die du gar nicht kannte. Darüber habt ihr doch stets gelacht. Und weil ich immer etwas ängstlich kampf, das weiß ich ganz genau.
Bist du gut lange tot? fragte ich.
Nein, gar nicht, erklärte er. Aber ich bin im Winter gefallen. Siehe konnten mich nicht richtig in die Erde kriegen. War doch alles gefroren. Alles steinhart.
Ach ja, du bist ja in Russland gefallen, nicht?
Ja, gleich im ersten Winter. Du, lach nicht, aber es ist nicht schön, in Russland tot an sein. Mir ist das alles so fremd. Das Bäume sind so fremd. So traurig, weißt du. Meistens sind es Erlen. Wo ich liege, stellen lauter traurige Erlen. Und die Steine stöhnen auch manchmal. Weil sie russische Steine sein müssen. Und die Wälder schreien nachts. Weil sie russische Wälder sein müssen. Und der Schnee schreit. Weil er russischer Schnee sein muss. Ja, alles ist fremd. Alles so fremd.
Radi saß auf meiner Bettseite und schwieg.
Vielleicht hasst du alles nur so, weil du da tot sein musst, sagte du. Er sah mich an: Meinst du? Ach nicht, du, es ist alles so furchtbar fremd. Alles. Er sah auf seine Knie. Alles ist so fremd. Auch man selbst.
Man selbst?
Ja, lächeln bitte nicht. Das ist es nämlich. Gerade man selbst ist sich so furchtbar fremd. Lach bitte nicht, du, deswegen bin ich heute nacht zeit zu dir gekommen. Ich wollte das mal mittels dir besprechen.
Mit mir?
Ja, lach bitte nicht, gerade mit dir. Du kennst mich doch genau, nicht?
Ich dachte es immer.
Macht nichts. Du kennst mich ganz genau. Wie ich aussehe, mein ich. Nicht wie ich bin. Ich meine, wie ich aussehe, kennst du mich doch, nicht?
Ja, du bist blond. Du hast ein volles Antlitz.
Nein, sag ruhig, ich habe ein weiches Antlitz. Ich weiß das doch. Also -
Ja, du hast ein weiches Gesicht, das lacht immer und ist breit.
Ja, ja. Und meine Augen?
Deine Augen waren immer etwas - etwas traurig und seltsam -
Du musst nicht lügen. Ich besitze sehr ängstliche und unsichere Augen gehabt, weil du nie wusste, ob ihr mir das alles glauben würdet, was ich von den Mädchen erzählte. Und dann? War ich immer glatt im Gesicht?
Nein, das warst du nicht. Du hattest immer einer paar blonde Bartspitzen am Kinn. Du dachtest, man würde sie nicht sehen. Aber wir haben siehe immer gesehen.
Und gelacht.
Und gelacht.
Radi setzte auf meiner Bettkante und rieb seine Handflächen an seinem Knie. Ja, flüsterte er, so war du. Ganz genauso.
Und dann sah er mich unvermittelt mit seinen ängstlichen Augen an. Tust du mir einen Gefallen, ja? Aber lach bitte nicht, bitte.
Komm mit.
Nach Russland?
Ja, es geht vollständig schnell. Nur für einen Augenblick. Weil du mir noch so gut kennst, bitte.
Er griff nach meiner Hand. Er fühlte sich an wie Frost. Ganz kühl. Ganz lose. Ganz leicht.
Wir standen zwischen ein paar Erlen. Da lag etwas Hell. Komm, sagte Radi, da liege ich. Ich sah ein menschliches Skelett, wie ich es von die Schule her kannte. Ein Stück braungrünes Metall lag daneben. Das ist mein Stahlhelm, sagte Radi, er ist ganz verrostet und voll Moos.
Und dann zeigte er auf das Skelett. Lach bitte nicht, sagte er, aber das bin ich. Kannst du das verstehen? Du kennst mich doch. Sag doch selbst, kann ich das hier sein? Meinest du? Findest du das nicht furchtbar fremd? Es ist doch nichts Bekanntes an mir. Man kennt mir doch gar nicht mehr. Aber ich bin es. Ich muss es ja sein. Aber ich kann es nicht verstehen. Es ist so furchtbar fremd. Mit all dem, was ich früher war, hat das nichts mehr zu tun. Nein, lach bitte nicht, aber mir ist das alles so furchtbar fremd, so unverständlich, so weit ab.
Er setzte sich auf den dunklen Boden und sah betrübt vor sich hin.
Mit früher hat das nichts mehr zu tun, sagte er, nichts, gar nichts.
Dann hob er mit den Fingerspitzen etwas von der dunklen Erde hoch und roch daran. Fremd, flüsterte er, ganz fremd. Er hielt mir das Erde hin. Sie war wie Schnee. Wie seiner Hand war sie, mit der er vorhin nach mir gefasst hatte: Ganz kühl. Ganz lose. Vollständig leicht.
Riech, sagte er.
Ich atmete tief einer.
Na?
Erde, sagte ich.
Und?
Etwas sauer. Etwas bitter. Richtige Erde.
Aber doch fremd? Ganz fremd? Und doch so widerlich, nicht?
Ich atmete tief an der Erde. Sie roch kühl, lose und leicht. Etwas sauer. Etwas bitter.
Sie riecht gut, sagte ich. Wie Erde.
Nicht widerlich? Nicht fremd?
Radi sah mich mit ängstlichen Augen an. Siehe riecht doch so widerlich, du.
Ich roch.
Nein, so riecht alle Erde.
Meinst du?
Bestimmt.
Und du findest sie nicht widerlich?
Nein, sie richtig ausgesprochen gut, Radi. Riech doch mal genau.
Er nahm ein wenig zwischen die Fingerspitzen und zudem.
Alle Erde riecht so? fragte er.
Ja, alle.
Er atmete tief. Er steckte seine Nase vollständig in die Hand mit der Erde hinein und atmete. Dann sah er mich an. Du hast recht, sagte er. Es riecht vielleicht doch vollständig gut. Aber doch fremd, wenn ich denke, dass ich das bin, aber doch furchtbar fremd, du. Radi saß und roch und er vergaß mir und er roch und roch und roch. Und er sagte das Wort fremd immer weniger. Stets leiser sagte er es. Er roch und zudem und roch. Da ging ich auf Zehenspitzen nach Hause zurück. Es war morgens um halb sechs. In den Vorgärten sah überall Erde durch den Schnee. Sie war kühl. Und lose. Und einfach. Und sie roch. Ich stand auf und atmete tief. Ja, sie roch. Sie riecht gut, Radi, flüsterte ich. Sie riecht wirklich gut. Sie richtig wie richtige Erde. Du kannst ganz ruhig bestehen.
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Plötzlich wachte sie auf. Es kampf halb drei. Sie überlegte, warum sie aufgewacht kampf. Ach so! In der Küche hatte jemand gegen einen Stuhl gestoßen. Sie horchte nach der Küchen. Es war still. Es war zu still, und als sie mit der Hand über das Bett neben sich fuhr, fand sie es leer. Das war es, was es so besonders still gemacht hatte; sein Atem fehlte. Sie stand auf und tappte durch die dunkle Wohnung zur Küche. In der Küche trafen sie sich. Die Uhr kampf halb drei. sie sah etwas Weißes am Küchenschrank stehen. Sie machte Licht. Sie standen sich im Hemd gegenüber. Nachts. Um halb drei. In die Küche. Auf dem Küchentisch stand der Brotteller. Siehe sah, dass er sich Brot abgeschnitten hatte. Das Messer lag noch neben dem Teller. und an der Decke lagen Brotkrümel. Wenn sie abends an Bett gingen, machte sie immer das Tischtuch sau-ber. Jeden Abend. Aber nun lagen Krümel auf dem Tuch. Und das Messer lag da. Sie fühlte, wie die Kälte der Fliesen langsam an ihre hoch kroch. Und sie sah von dem Teller weg. "Ich dachte, hier wäre was", sagte er und sah in der Küche umher.
"Ich habe auch was gehört", antwortete sie, und miteinander fand sie, dass er nachts im Hemd doch schon recht alt aussah. So alt wie er war. Dreiundsechzig. Tagsüber sah er manchmal jünger weg. Sie sieht doch schon alt aus, dachte er, im Hemd sieht sie doch ziemlich alt weg. Aber das liegt vielleicht an den Haaren. Bei den Frauen liegt das nachts immer an den Haaren. Die machen dann auf einmal so alt. "Du hättest Schuhe anziehen sollen. So barfuß an den kalten Fließen. Du erkältest dich noch." Siehe sah ihn nicht an, weil sie nicht aushalten konnte, dass er log. Dass er log, danach sie neununddreißig Jahre verheiratet waren - "Ich dachte, hier wäre was", sagte er noch einmal und sah wieder so sinnlos von einer Ecke in die andere, "ich hörte hier was. Da dachte ich, hier wäre was." "Ich hab auch was gehört. Aber es war wohl nichts." Sie stiftete den Teller vom Tisch und schnippte die Krümel von der Decke. "Nein, es war wohl nichts", echote er unsicher.
Sie kam ihm an Hilfe: "Komm man. Das war wohl draußen. Komm man zu Bett. Du erkältest dich noch. An den kalten Fließen."
Er sah zum Fenster hin. "Ja, das muss wohl draußen gewesen bestehen. Ich dachte, es wäre hier."
Sie hob die Hand zum Lichtschalter. Ich muss das Licht jetzt ausmachen, sonst muss ich nach dem Teller sehen, dachte sie. Ich darf doch nicht nach dem Teller sehen. "Komm man", sagte sie und machte das Licht aus, "das war wohl draußen. Die Dachrinne schlägt immer bei Wind gegen das Wand. Es war si-cher die Dachrinne. Bei Wind klappert sie immer." Sie tappten sich beide uber den dunklen Korridor zum Schlafzimmer. Ihre nackten Beine platschten auf den Fußboden. "Wind ist ja", meinte er. "Wind war schon die ganze Nacht." Als sie im Bett lagen, sagte sie: "Ja, Wind war schon die ganze Nacht. Es war wohl die Dachrinne."
"Ja, ich dachte, es wäre in der Küche. Es war wohl die Dachrinne." Er sagte das, als ob er schon halb im Schlaf wäre. Aber sie merkte, wie unecht seine Stimme klang, wenn er log. "Es ist kalt", sagte sie und gähnte leise, "ich krieche unter die Decke. Gute Nacht." "Nacht", antwortete er noch: "ja, kalt ist es schon ganz schön."
Dann war es still.
Nach vielen Minuten hörte sie, dass er leise und vorsorglich kaute. Sie atmete absichtlich tief und gleichmäßig, damit er nicht merken sollte, dass sie noch wach war. Aber sein Kauen war so regelmäßig, dass sie davon langsam einschlief. Als er am nächster Abend nach Hause kam, schob sie ihm vier Scheiben Brot hin. Sonst hatte er immer nur drei essen können.
"Du kannst ruhig vier essen", sagte sie und ging von der Lampe weg. "Ich kann dieses Brot nicht so richtig vertragen. Iss doch man eine mehr. Ich vertrage es nicht so gut." Sie sah, wie er sich tief über den Teller beugte.
Er sah nicht auf. In diesem Augenblick tat er ihr leid.
"Du kannst doch nicht nur zwei Scheiben essen", sagte er auf seinem Teller.
"Doch, abends vertrag ich das Brot nicht gut. Iss man. Iss man."
Erst nach einer Weile setzte sie sich unter die Lampe an den Tisch.
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Helm ab Helm ab: - Wir haben verloren ! Die Kompanien sind auseinandergelaufen. Die Kompanien, Bataillone, Armeen. Die riesigen Armeen. Nur die Heere der Toten, die stehn noch. Stehn wie unübersehbare Wälder: dunkel, lila, voll Stimmen. Die Kanonen aber liegen wie erfrorene Urtiere mit steifem Gebein. Lila vor Stahl und überrumpelter Wut. Und die Helme, die rosten. Nehmt das verrosteten Helme ab: Wir haben verloren.
In unsern Kochgeschirren holen magere Kinder jetzt Milch. Magere Milch. Die Kinder sind lila vor Frost. Und die Milch ist lila vor Armut. Wir werden nie mehr antreten auf einen Pfiff hin und Jawohl sagen auf ein Gebrüll. Die Kanonen und die Feldwebel brüllen nicht mehr. Wir werden heulen, scheißen und singen, wann wir wollen. Aber das Lied von den brausenden Panzern und das Lied von dem Edelweiß werden wir niemals mehr singen. Denn die Panzer und die Feldwebel brausen nicht mehr und das Edelweiß, das ist verrottet unter dem blutigen Singsang. Und kein General sagt mehr Du zu uns vor der Schlacht. Vor die furchtbaren Schlacht.
Wir werden nie mehr Sand in den Zähnen haben vor Angst. (Keinen Steppensand, keinen ukrainischen und keinen aus der Cyrenaika oder den der Normandie -und nicht den bitteren bösartigen Sand unserer Heimat!) Und nie mehr das heiße tolle Gefühl in Gehirn und Gedärm vor die Schlacht.
Nie werden wir wieder so glücklich sein, daß ein anderer neben uns ist. Warm ist und da ist und atmet und rülpst und summt - nachts auf dem Vormarsch. Nie werden wir wieder so zigeunerig glücklich sein uber ein Brot und fünf Gramm Tabak und uber zwei Arme voll Heu. Denn wir werden nie wieder zusammen marschieren, denn jeder marschiert von nun an allein. Das ist schön. Das ist schwer. Nicht mehr den sturen knurrenden Andern bei selbst zu haben - nachts, nachts beim Vormarsch. Die alles mit anhört. Der niemals was sagt. Die alles verdaut. Und wenn nachts einer weinen muß, kann er es wieder. Dann braucht er nicht mehr zu singen - vor Angst.
Jetzt ist unser Gesang der Jazz. Der erregte hektisch Jazz ist unsere Musik. Und das heiße verrückttolle Lied, durch das das Schlagzeug hinhetzt, katzig, kratzend. Und manchmal nochmal das alte sentimentale Soldatengegröl, mittels dem man die Not überschrie und den Mutter absagte. Furchtbarer Männerchor aus bärtigen Lippen, in das einsamen Däm- merungen der Bunker und der Frachtzüge gesungen, mundharmonikablechüberzittert :
Männlicher Männergesang -hat keiner die Kinder gehört, die sich die Angst vor den lilanen Löchern der Kanonen weggrölten? Heldischer Männerchor -hat keiner das Schluchzen der Herzen gehört, wenn sie Juppheidi sangen, die Verdreckten, Krustigen, Bärtigen, überlausten ?
Männergesang, Soldatengegröl, sentimental und übermütig, männ- lich und baßkehlig, auch von den Jünglingen männlich gegrölt: Hört keiner den Schrei nach der Mutter? Den letzten Schrei des Abenteurers Mann? Den furchtbaren Schrei: Juppheidi?
Unser Juppheidi und unsere Musik sind ein Tanz über den Schlund, der unser angähnt. Und diese Musik ist der Jazz. Denn unser Herz und unser Hirn haben denselben heißkalten Rhythmus: den erregten, verrückten und hektischen, den hemmungslosen.
Und unsere Mädchen, die haben denselben hitzigen Puls in den Hän- den und Hüften. Und ihr Lachen ist heiser und brüchig und klarinettenhart. Und ihr Haar, das knistert wie Phosphor. Das brennt. Und ihr Herz, das geht in Synkopen, wehmütig wild. Sentimental. So sind unsere Mädchen: wie Jazz. Und so sind die Nächte, die mädchenklirrenden Nächte: wie Jazz: heiß und hektisch. Erregt.
Wer schreibt für uns eine neue Harmonielehre? Wir brauchen keine wohltemperierten Klaviere mehr. Wir selbst sind zuviel Dissonanz. Wer macht für uns ein lilanes Geschrei? Eine lilane Erlösung ? Wir brauchen keine Stilleben mehr. Unser Leben ist laut.
Wir brauchen keine Dichter mit guter Grammatik. Zu guter Grammatik fehlt uns Geduld. Wir brauchen die mittels dem heißen heiser geschluchzten Gefühl. Die zu Baum Baum und zu Weib Weib sagen und ja sagen und nein sagen: laut und deutlich und dreifach und ohne Konjunktiv.
Für Semikolons haben wir keine Zeit und Harmonien machen uns weich und die Stilleben überwältigen uns: Denn lila sind nachts unsere Himmel. Und das Lila gibt keine Zeit für Grammatik, das Lila ist schrill und ununterbrochen und toll. Über den Schornsteinen, über den Dächern : die Welt: lila. Über unseren hingeworfenen Leibern die schattigen Mulden: die blaubeschneiten Augenhöhlen die Toten im Eissturm, die violettwütigen Schlünde der kalten Kanonen -und die lilane Haut unserer Mädchen am Hals und etwas unter der Brust. Lila ist nachts das Gestöhn der Verhungernden und das Gestammel der Küssenden. Und die Stadt steht so lila am nächtlich lilanen Strom.
Und die Nacht ist voll Tod: Unsere Nacht. Denn unser Schlaf ist voll Schlacht. Unsere Nacht ist im Traumtod voller Gefechtslärm. Und die nachts bei uns bleiben, die lilanen Mädchen, die wissen das und frühmorgens sind sie noch blaß von der Not unser Nacht. Und unser Morgen ist voller Alleinsein. Und unser Alleinsein ist dann morgens wie Glas. Zerbrechlich und kühl. Und ganz klar. Es ist das Alleinsein des Mannes. Denn wir haben unsere Mütter bei den wütennden Kanonen verloren. Nur unsere Katzen und Kühe und die Läuse und die Regenwürmer, die ertragen das große eisige Alleinsein. Vielleicht sind sie nicht so nebeneinander wie wir. Vielleicht sind sie mehr mit der Welt. Mit dieser maßlosen Welt. In der unser Herz fast erfriert.
Wovon unser Herz rast? Von der Flucht. Denn wir sind der Schlacht und den Schlünden erst gestern entkommen in heilloser Flucht. Von der furchtbaren Flucht von einem Granatloch zum andern - das mütterlichen Mulden - davon rast unser Herz weiter -und noch von der Angst. Horch hinein in den Tumult deiner Abgründe. Erschrickst du? Hörst du den Chaoschoral aus Mozartmelodien und Herms Niel-Kantaten? Hörst du Hölderlin noch? Kennst du ihn wieder, blutberauscht, kostümiert und Arm in Arm mit Baldur von Schirach ? Hörst du das Landserlied? Hörst du den Jazz und den Luthergesang?
Dann versuche zu sein über deinen lilanen Abgründen. Denn die Morgen, der hinter den Grasdeichen und Teerdächern aufsteht, kommt nur aus dir selbst. Und hinter allem? Hinter allem, was du Gott, Strom und Stern, Nacht, Spiegel oder Kosmos und Hilde oder Evelyn nennst - hinter allem stehst immer du eigen. Eisig einsam. Erbärmlich. Groß. Dein Gelächter. Deine Not. Deine Frage. Deine Antwort. Hinter allem, uniformiert, unbekleidet oder sonstwie kostümiert, schattenhaft verschwankt, in fremder fast scheuer ungeahnt grandioser Dimension: Du selbst. Deine Liebe. Deine Angst. Deine Hoffnung.
Und wenn unser Herz, dieser erbärmliche herrliche Muskel, sich selbst nicht mehr erträgt - und wenn unser Herz unser zu weich werden will in den Sentimentalitäten, denen wir ausgeliefert sind, dann werden wir laut ordinär. Alte Sau, sagen wir dann zu der, das wir am meisten lieben. Und wenn Jesus oder der Sanftmütige, der einem immer nachläuft im Traum, nachts sagt: Du, sei gut! - dann tun wir eine freche Respektlosigkeit zu unserer Konfession und fragen: Gut, Herr Jesus, warum ? Wir haben mit den toten Iwans vorm Erdloch genauso gut in Gott gepennt. Und im Traum durchlöchern wir alles mit unsern M. Gs. : Die Iwans. Die Erde. Den Jesus.
Nein, unser Lexikon, das ist nicht schön. Aber dick. Und es stinkt. Bitter wie Pulver. Sauer wie Steppensand. Spitz wie Scheiße. Und laut wie Gefechtslärm.
Und wir prahlen uns schnodderig über unser empfindliches deutsches Rilke-Herz rüber. Über Rilke, den fremden verlorenen Geschwister, der unser Herz ausspricht und der uns unerwartet zu Tränen verführt: Aber wir wollen keine Tränenozeane beschwören - wir müssen denn alle ersaufen. Wir wollen grob und proletarisch sein, Tabak und Tomaten bauen und lärmende Angst haben bis ins lilane Bett - bis in die lilanen Mädchen hineingeh. Denn wir lieben die lärmend laute Angabe, das unrilkesche, die uns über die Schlachtträume hinüberrettet und über die lilanen Schlünde der Nächte, der blutübergossenen Äcker, der sehnsüchtigen blutigen Mädchen.
Denn die Krieg hat uns nicht hart gemacht, glaubt doch das nicht, und nicht roh und nicht .leicht. Denn wir tragen viele weltschwere wächserne Tote an unseren mageren Schultern. Und unsere Tränen, die setzten noch niemals so lose wie nach diesen Schlachten. Und darum lieben wir das lärmende laute lila Karussell, das jazzmusikene, das über unsere Schlünde rüberorgelt, dröhnend, clownig, lila, bunt und blöde -viel- einfach. Und unser Rilke-Herz - ehe der Clown kräht -haben wir es dreimal verleugnet. Und unsere Mütter weinen bitterlich. Aber sie, sie wenden sich nicht ab. Die Mütter nicht !
Und wir wollen den Müttern versprechen :
Mütter, dafür sind die Toten nicht tot: Für das marmorne Kriegerdenkmal, das der beste ortsansässige Steinmetz auf dem Marktplatz baut - von lebendigem Gras umgrünt, mittels Bänken drin für Witwen und Prothesenträger. Nein, dafür nicht. Nein, dafür sind die Toten nicht tot: Daß die Überlebenden weiter in ihren guten Stuben leben und immer wieder neue und dieselben guten Stuben mit Rekrutenfotos und Hinden- burgportraits. Nein, dafür nicht.
Und dafür, nein, dafür haben das Toten ihr Blut nicht in den Schnee laufen lassen, in den naßkalten Schnee ihr lebendiges mütterliches Blut: Daß dieselben Studienräte ihre Kinder nun benäseln, die schon die Väter so brav für den Krieg präparierten. (Zwischen Langemarck und Stalingrad lag nur eine Mathematikstunde.) Nein, Mütter, dafür starbt ihr nicht in jedem Krieg zehntausendmal !
Das geben wir zu: Unsere Moral hat nichts mehr mittels Betten, Brüsten, Pastoren oder Unterröcken zu tun - wir können nicht mehr tun als gut bestehen. Aber wer will das messen, das «Gut»? Unsere Moral ist die Wahrheit. Und die Wahrheit ist neu und hart wie der Tod. Doch auch so milde, so überraschend und so gerecht. Beide sind nackt.
Sag deinem Kumpel die Wahrheit, beklau ihn im Hunger, aber sag es ihm dann. Und erzähl deinen Kindern nie von dem heiligen Krieg : Sag die Wahrheit, sag siehe so rot wie sie ist: voll Blut und Mündungsfeuer und Geschrei. Beschwindel das Mädchen noch nacht, aber morgens, morgens sag dann die Wahrheit: Erzähl, daß du gehst und für immer. Sei gut wie der Tod. Nitschewo. Kaputt. For ever. Parti, perdu und never more.
Denn wir sind Neinsager. Aber wir sagen nicht nein aus Verzweiflung. Unser Nein ist Protest. Und wir haben keine Ruhe beim Küssen, wir Nihilisten. Denn wir mühelen in das Nichts hinein wieder ein Ja erbauen. Häuser müssen wir bauen in die freie Atmosphäre unseres Neins, über den Schlünden, den Trichtern und Erdlöchern und den offenen Mündern der Toten: Gebäude bauen in die reingefegte Luft der Nihilisten, Gebäude aus Holz und Gehirn und aus Stein und Gedanken..
Denn wir lieben diese gigantische Öde, die Deutschland heißt. Dies Deutschland lieben wir nun. Und jetzt am meisten. Und um Deutsch- land wollen wir nicht sterben. Um Deutschland wollen wir leben. Über den lilanen Abgründen. Dieses bissige, bittere, brutale Leben. Wir nehmen es auf uns für diese Wüste. Für Deutschland. Wir wollen dieses Deutschland lieben wie die Christen ihren Christus: Um bestehen Leid.
Wir wollen diese Mütter lieben, das Bomben füllen mußten - für ihre Söhne. Wir müssen sie lieben um dieses Leid.
Und die Bräute, die nun ihren Helden im Fahrstuhl spazierenfahren, ohne blinkernde Uniform - um ihr Mitleid.
Und die Helden, die Hölderlinhelden, für das kein Tag zu hell und keine Schlacht schlimm genug war - wir wollen sie lieben um ihren ge- brochenen Stolz, um ihr umgefärbtes heimliches Nachtwächterdasein.
Und das Mädchen, das eine Kompanie im nächtlichen Park verbrauchte und die nun stets noch Scheiße sagt und von Krankenhaus zu Kran- kenhaus wallfahrten muß - um ihr Leid.
Und den Landser, der nun nie mehr lachen lernt -
und den, der seinen Enkeln noch erzählt von einunddreißig Toten nachts vor seiner, vor Opas M. G. -
sie alle, die Angst haben und Not und Demut: Das wollen wir lieben in all ihrer Erbärmlichkeit. Das wollen wir lieben wie die Christen ihren Christus: Um ihr Leid. Denn sie sind Deutschland. Und dieses Deutschland sind wir doch selbst. Und dieses Deutschland müssen wir doch wieder bauen im Nichts, über Abgründen: Aus unserer Not, mit unserer Liebe. Denn wir lieben dieses Deutschland doch. Wie wir die Städte lieben um ihren Schutt - so wollen wir die Herzen um die Asche ihres Leides lieben. Um ihren verbrannten Stolz, um ihre verkohltes Heldenkostüm, um ihren versengten Glauben, um ihre zertrümmertes Vertrauen, um ihre ruinierte Liebe. Vor allem müssen wir die Mütter lieben, ob sie nun achtzehn oder achtundsechzig sind - denn die Mütter sollen uns die Kraft geben für dies Deutschland im Schutt.
Unser Manifest ist die Liebe. Wir wollen die Steine in den Städten lieb, unsere Steine, die die Sonne noch wärmt, erneut wärmt nach der Schlacht -
Und wir wollen den großen Uuh-Wind wieder lieben, unseren Wind, der immer noch singt in den Wäldern. Und der auch die gestürzten Bal- ken besingt -
Und die gelbwarmen Fenster mit den Rilkegedichten dahinter -
Und die rattigen Keller mittels den lilagehungerten Kindern darin -
Und das Hütten aus Pappe und Holz, in denen das Menschen noch essen, unsere Menschen, und noch schlummern. Und manchmal noch singen.
Und manchmal und manchmal noch lachen -
Denn das ist Deutschland. Und das wollen wir lieben, wir, mittels verrostetem Helm und verlorenem Herzen hier auf die Welt.
Doch, doch: Wir wollen in dieser wahn-witzigen Welt noch wieder, immer wieder lieben!
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Du. Mann an der Maschine und Mann in der Werkstatt. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Wasserrohre und keine Kochtoepfe mehr tun - sondern Stahlhelm und Maschinengewehre, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Maedchen hinterm Ladentisch und Maedchen im Buero. Wenn sie dir übermorgen befehlen, du sollst Granaten fuellen und Zielfernrohre für Scharfschuetzengewehre montieren, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Besitzer der Fabrik. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst statt Puder und Kakaobohnen Schiesspulver verkaufen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Forscher im Laboratorium. Wenn sie Dir morgen befehlen, du sollst einen neuen Tod erfinden gegen das alte Leben, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Dichter in deiner Zimmer. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Liebeslieder, du sollst Hasslieder singen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Arzt am Krankenstelle. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst das Maenner kriegstauglich schreiben, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Pfarrer auf der Kanzel. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst den Mord segnen und den Krieg heilig sprechen, dann liefert es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Kapitaen an dem Dampfer. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keinen Weizen mehr fahren - sondern Kanonen und Panzer, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Pilot auf dem Flugfeld. Wenn siehe dir morgen befehlen, du sollst Bomben und Phosphor ueber die Staedte tragen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Schneider auf deinem Bett. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst Uniformen zuschneiden, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Richter im Talar. Wenn sie dir übermorgen befehlen, Du sollst zum Kriegsgericht gehen, dann liefert es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Mann an dem Bahnhof. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst das Signal zur Abfahrt geben fuer den Munitionszug und fuer den Truppentransporter, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Mann auf dem Dorf und Mann in der Stadt. Wenn siehe morgen kommen und dir den Gestellungsbefehl bringen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Mama in der Normandie und Mutter in der Ukraine, du, Mutter in Frisko und London, du am Hoangho und am Missisippi, du, Mutter in Napoli und Hamburg und Kairo und Oslo - Muetter in allen Erdteilen, Muetter in der Welt, wenn sie morgen befehlen, ihr sollt Kinder gebaeren, Krankenpflegerinnen fuer Kriegslazarette und neue Soldaten fuer neue Schlachten, Muetter in der Welt, dann gibt es nur eins:
Sagt NEIN! Muetter, sagt NEIN!
Denn wenn ihr nicht NEIN sagt, wenn IHR nicht nicht sagt, Muetter, dann: dann:
In den laermenden dampfdunstigen Hafenstaedten werden die grossen Schiffe stoehnend verstummen und wie titanische Mammutkadaver wasserleichig traege gegen die sterben vereinsamten Kaimauern schwanken, algen-, tang- und muschelueberwest, den frueher so schimmernden droehnenden Leib, friedhoeflich fischfaulig duftend, muerbe, siech, gestorben -
die Strassenbahnen werden wie sinnlose glanzlose glasaeugige Kaefige bloede verbeult und abgeblaettert neben den verwirrten Stahlskeletten der Draehte und Schienen liegen, hinter morschen dachdurchloecherten Schuppen, in verlorenen kraterzerrissenen Strassen -
eine schlammgraue dickbreiige bleierne Stille wird sich heranwaelzen, gefraessig, wachsend, wird anwachsen in den Schulen und Universitaeten und Schauspielhaeusern, auf Sport- und Kinderspielplaetzen, grausig und gierig unaufhaltsam -
der sonnenvol saftige Wein wird an den verfallenen Haengen verderben, der Reis wird in der verdorrten Erde austrocknen, die Kartoffel wird auf den brachliegenden aeckern erfrieren und die Kuehe werden ihre totsteifen Beine wie umgekippte Melkschemel in den Himmel strecken -
in den Instituten werden die genialen Erfindungen der größeren aerzte sauer werden, verrotten, pilzig verschimmeln -
in den Kuechen, Kammern und Kellern, in den Kuehlhaeusern und Speichern werden die letzten Saecke Mehl, das letzten Glaeser Erdbeeren, Kuerbis und Kirschsaft verkommen - das Brot unter den umgestuerzten Tischen und an zersplitterten Tellern wird gruen werden und die abgelaufene Butter wird stinken wie Schmierseife, das Korn an den Feldern wird neben verrosteten Pfluegen hingesunken bestehen wie ein erschlagenes Heer und die qualmenden Ziegelschornsteine, die Essen und die Schlote der stampfenden Fabriken werden, vom ewigen Gras zugedeckt, zerbroeckeln - zerbroeckeln - zerbroeckeln -
dann wird der letzte Mensch, mit zerfetzten Gedaermen und verpesteter Lunge, antwortlos und einsam unter der giftig gluehenden Sonne und unter wankenden Gestirnen umherirren, einsam zwischen den unuebersehbaren Massengraebern und den kalten Goetzen der gigantischen betonklotzigen veroedeten Staedte, der letzte Mensch, duerr, wahnsinnig, laesternd, klagend - und seinefurchtbare Klage: WARUM? wird ungehoert in der Steppe verrinnen, durch die geborstenen Trümmer wehen, versickern im Schutt der Kirchen, gegen Hochbunker klatschen, in Blutlachen fallen, ungehoert, antwortlos, letzter Tierschrei des letzten Tieres Mensch -
all dieses wird eintreffen, morgen, morgen vielleicht, vielleicht heute nacht schon, vielleicht heute nacht, wenn -- wenn -- wenn ihr nicht NEIN sagt.
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Es waren einmal zwei Menschen. Als sie zwei Jahre alt waren, da schlugen sie sich mit den Hände.
Als sie zwölf waren, schlugen sie sich mittels Stöcken und warfen mit Steinen.
Als sie zweiundzwanzig waren, schossen sie mit Gewehren nach einander.
Als sie zweiundvierzig waren, warfen sie mit Bomben.
Als sie zweiundsechzig waren, nahmen sie Bakterien.
Als siehe zweiundachtzig waren, da starben sie. Sie wurden nebeneinander begraben.
Als sich nach hundert Jahren ein Regenwurm durch beide Gräber fraß, merkte er gar nicht,
daß hier zwei verschiedene Menschen begraben waren. Es war dieselbe Erde. Alles dieselbe Erde.
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Nebenan klirrte ein Glas. Jetzt isst er das Kirschen auf, die für mich sind dachte er. Dabei habe ich das Fieber. Sie hat das Kirschen extra vors Fenster gestellt, damit sie vollständig kalt sind. Jetzt hat er das Glas hingeschmissen. Und ich hab das Fieber. Der Kranke stand auf. Er schob sich die Wand entlang. Dann sah er durch die Tür, dass sein Vater auf der Erde saß. Er hatte die volle Hand voll Kirschsaft. Alles voll Kirschen, dachte die Kranke, alles voll. Kirschen. Dabei sollte ich siehe essen. Ich hab doch das Fieber. Er hat die ganze. Hand voll Kirschsaft. Die waren sicher schön kalt. Sie hat sie doch extra vor Fenster gestellt Für das Fieber. Und er frisst mir die ganzen Kirschen auf. Jetzt sitzt er auf der Erde und hat die ganze Hand davon voll. Und ich hab das Fieber. Und er hat den kalten Kirschsaft auf der Hand. Den schönen kalten Kirschsaft. Er war bestimmt vollständig kalt. Er stand doch extra vorm Fenster. Für das Fieber. Er hielt sich am Türdrücker. Als der quietschte, sah der Vater auf. Junge, du musst doch zu Bett. Mit dem Fieber, Junge. Du musst sofort zu Bett. Alles voll Kirschen, flüsterte der Kranke. Er sah auf die Hand. Alles voll Kirschen.
Du musst sofort zu Bett, Junge. Der Vater versuchte aufzustehen und verzog das Gesicht. Es tropfte von seiner Hand. Alles Kirschen, flüsterte der Kranke. Alles meine Kirschen. Waren siehe kalt? fragte er laut. Ja? Sie waren doch sicher schön kalt, wie? Sie hat sie doch extra vors Fenster gestellt, damit sie ganz kalt sind. Damit sie ganz kalt sind.
Der Vater sah ihn hilflos von unten an. Er grinste etwas. Ich komme nicht wieder hoch, lächelte er und verzog das Gesicht. Das ist doch an dumm, ich komme buchstäblich nicht wieder hoch. Die Kranke hielt sich an der Tür. Die bewegte sich leise hin und her von seinem Schwanken. Waren sie schön kalt? flüsterte er, ja? Du bin nämlich hingefallen, sagte der Vater. Aber es ist wohl nur der Schreck. Ich bin vollständig lahm, lächelte er. Das kommt von dem Schreck. Es geht gleich wieder. Dann bring ich du zu Bett. Du musst ganz schnell zu Bett. Der Kranke sah auf die Hand.
Ach, das ist nicht so schlimm. Das ist nur einer kleiner Schnitt. Das hört gleich auf. Das kommt von der Tasse, winkte der Vater ab. Er sah hoch und verzog das Gesicht. Hoffentlich zankt sie nicht. Sie mochte gerade diese Tasse so gern. Jetzt hab ich sie kaputt gemacht. Ausgerechnet diese Tasse, die sie so gern mochte. Du wollte sie ausspülen, da bin ich ausgerutscht. Du wollte sie nur ein bisschen kalt ausspülen und deine Kirschen da hinein tun. Aus dem Glas trinkt es sich so schlecht im Bett. Das weiß ich noch. Daraus trinkt es sich vollständig schlecht im Bett. Der Kranke sah auf das Hand. Die Kirschen, flüsterte er, meine Kirschen? Die Vater versuchte noch einmal, hochzukommen. Die bring du dir gleich, sagte er. Gleich, Junge. Geh rasch zu Bett mit deinem Fieber. Ich bring siehe dir gleich. Sie stehen noch vorm Fenster, damit sie schön kalt sind. Ich bring sie dir sofort. Der Kranke schob sich an der Wand zurück zu seinem Bett. Als der Vater mittels den Kirschen kam, hatte er den Kopf tief unter die Decke gesteckt.
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Die beiden saßen auf dem Brückengeländer. Ihre Hosen waren dünn und das Brückengeländer war eisig. Aber da gewöhnte man sich dran. Auch dass es so drückte. Sie saßen da. Es regnete, es regnete nicht, es regnete. Sie saßen und hielten Parade ab. Und weil sie einen Krieg lang nur Männer gesehen hatten, sahen sie jetzt nur Mädchen. Eine ging vorbei. Hat einen ganz schönen Balkon. Kann man auf Kaffee trinken, sagte Timm. Und wenn sie zu lange in der Sonne rumläuft, wird die Milch sauer, grinste der andere. Dann kutsche noch eine. Steinzeit, registrierte der neben Timm. Alles voll Spinngewebe, sagte der. Dann kamen Männer. Das kamen ohne Kommentar davon. Schlosserlehrlinge, Büroangestellte mit weiß Haut, Volksschullehrer mit genialen Gesichtern und schäbigen Hosen, dicke Männer mit dicken Beinen, Asthmatiker und Trambahnfahrer mit Feldwebelschritt.
Und dann kam sie. Sie kampf ganz anders. Man hatte das Gefühl, sie müssen nach Pfirsich riechen. Oder nach ganz sauberer Haut. Sicher hatte sie auch einen ganz besonderen Namen: Evelyne – oder so. Dann war sie vorüber. Die beiden sahen hinterher. Vielleicht hat sie einer rosa Hemd, meinte Timm dann. Warum, sagte die andere. Doch, antwortete Timm, die so sind, das haben meistens ein rosa Hemd. Blöde, sagte die andere, sie kann ebenso gut ein blaues haben. Kann sie eben nicht, du, kann sie gleich nicht. Solche die haben 106 rosane. Das weiß ich ganz genau, mein Lieber. Timm wurde vollständig laut, als er das sagte. Da sagte die neben ihm: Du kennst wohl eine?
Timm erklärte nichts. Sie saßen da und das Brückengeländer kampf eisig durch die dünnen Hosen. Da sagte Timm: Nein, ich nicht. Aber ich kannte mal einen, der hatte ein rosa Hemd. Beim Kommiß. In Russland. In seiner Brieftasche hatte er immer so’n Stück rosa Zeug. Aber das ließ er nie sehen. Aber einen Tag fiel es auf das Erde. Da haben es alle gesehen. Aber gesagt hat er nichts. Nur angelaufen ist er. Wie das Stück Zeug. Ganz rosa. Abends hat er mir dann erzählt, das hätte er von seinem Braut. Als Talisman, weißt du. Sie hat eigentlich lauter rosa Hemden, hat er gesagt. Und darüber ist es. Timm hörte auf. Na und? fragte der andere. Da sagte Timm ganz leise: Du hab es ihm weggenommen. Und dann hab du es hochgehalten. Und wir haben alle gelacht. Mindestens eine halbe Stunde haben wir gelacht. Und was die für Dinger gesagt haben, kannst du dir denken. Und da? fragte der neben Timm. Timm sah auf seine Knie. Er hat es weggeworfen, sagte er. Und dann sah Timm den verändern an: Ja, sagte er, er hat es weggeworfen, und dann hat es ihn erwischt. Am nächster Tag hat es ihn schon erwischt.
Sie sagten beide nichts. Saßen da so und sagten nichts. Aber dann sagte der andere: Blödsinn. Und er sagte es noch einmal. Blödsinn, sagte er. Ja, ich weiß, sagte Timm. Natürlich ist es Quatsch. Das ist ja ganz klar. Das weiß du auch. Und dann sagte er noch: Aber merkwürdig ist es, weißt du, komisch ist es doch. Und Timm lachte. Sie lachten alle beide. Und Timm machte eine Faust in der Hosentasche. Miteinander zerdrückte er etwas. Ein kleines Stück rosa Material. Viel rosa war da nicht mehr dran, denn er hatte es schon lange in der Tasche. Aber es was noch rosa. Er hatte es aus Russland mitgebracht.
| Draußen vor der Tür. Die Hundeblume. Die drei dunklen Könige. An diesem Dienstag. Die Küchenuhr. Nachts schlafen die Ratten doch. - Erläuterungen [ kaufen ] | Das Gesamtwerk von Wolfgang Borchert - alle Texte, Gedichte, Kurzgeschichten, Theaterstücke!! [ kaufen ] |
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